Quo vadis, Wahrheit?

Verfasst von:

Eva Schulte-Ostermann

Wenn ich mich richtig erinnere, war es das Jahr 2016, als die Lüge erstmals in größerem Stil als „alternative Fakten“ in den USA in Erscheinung trat und online salonfähig wurde. Dies wurde dann ziemlich flott auch bei uns von Einzelnen mit Begeisterung aufgegriffen und schwappte nach und nach bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie scheint der Sache noch mehr Schwung verliehen zu haben.

So traf ich neulich eine alte Bekannte, die mir mitten im Gespräch erklärte, dass Sie an den Fachkräftemangel ja nicht glaube. Und – wie so oft – war ich so perplex, dass ich meine guten Argumente wieder erst n a c h dem Treffen parat hatte. Jedenfalls stimmte mich die Sache nachdenklich… Tatsächlich habe ich den Eindruck, dass mehr Menschen als früher meinen, sie könnten sich aussuchen, was Tatsache ist und was nicht. Ich meine, kein Fachkräftemangel? Ob Pflegekräfte oder Erzieher:innen – dazu gibt es schlichtweg handfeste empirische Daten.

Doch wie kann so etwas wieder eingefangen werden? In meinem Beruf widme ich mich ja (unter anderem) der Vermittlung von Medienkompetenz. Und Viele, die dieses Wort nutzen, meinen damit meist den vermeintlichen Bedarf der jeweils anderen: allen voran Kinder und Jugendliche sollen das alles gefälligst in der Schule irgendwie beigebracht kriegen.

Doch tatsächlich haben wir meines Erachtens ein Problem außerhalb des Bildungssystems. Daten und Fakten als unglaubwürdig darzustellen, zum Beispiel die Meinung eines Facebook-Nutzers, der uns erklärt, dass das Klima sich ja schon immer verändert habe, als gleichwertig mit den eindeutigen Aussagen von Klimaforscher:innen zu betrachten, ist doch eigentlich abwegig – aber manche tun dies und scheinen eben n i c h t fähig (oder gewillt?), Texte richtig zu lesen, zu verstehen und die Quellen beurteilen zu können, was *tadaa* überhaupt erst die Grundlage für Medienkompetenz wäre.

Quo vadis, Welt? Quo vadis, Wahrheit? Die Menschheitsgeschichte als Fortschrittsgeschichte zu denken, davon habe ich mich schon vor längerer Zeit verabschiedet. Sie den Bach runtergehen zu sehen, das vermag ich mit Blick auf kommende Generationen aber dennoch nicht hinnehmen. Was nun? Weitermachen.

Und wo wir schon bei Medienkompetenz sind: haben Sie sich angesprochen gefühlt…? Dann möchte ich mal vorsichtig fragen, ob Sie sich irgendwann schon einmal gefragt haben, warum viele der Apps auf Ihrem Smartphone kostenlos sind? O d e r sind sie das im Grunde nicht?

Nein, sind sie nicht. Sie bezahlen mit der hypothetischen Möglichkeit, Ihr zukünftiges Verhalten zu beeinflussen. Das ist die Währung bei Social Media und Co.

Wenn Sie also morgen früh aufwachen und denken, dass Sie unbedingt diese eine rote Kaffeemaschine kaufen müssen, dann war die Ursache womöglich ein recht fixer Algorithmus, der ihr (Konsum-) Verhalten analysiert und Ihnen deswegen im Newsfeed überall besagte Kaffeemaschine gezeigt hat. Das ist doch aber harmlos? Na ja, jein.

Traurige Berühmtheit diesbezüglich erhielt 2018 das Massaker an den Rohinga in Myanmar: das Militär hatte zuvor Facebook mit Hass auf die muslimische Minderheit im Land einige Zeit regelrecht geflutet und so letztlich das Massaker ausgelöst. Sowohl Facebook als auch die zivile Führung Myanmars sagten anschließend laut New York Times, dass sie sich der Macht dieser Plattform nun sehr bewusst seien. Doch Meta steht in der Landschaft der Social Media- Angebote ja nicht alleine da.

Und die Reichweite gebrüllter Lügen auf Youtube, TikTok oder wo auch immer ist meist wesentlich größer als die der sachlichen Richtigstellungen. Zudem ruft Künstliche Intelligenz nun ganz neue Möglichkeiten der Realitätsverzerrung auf den Plan. Bereits heute schon sind Bilder und Videos in täuschend echter Qualität im Netz, dabei steht diese Entwicklung noch an ihrem Anfang.

Ich hoffe jedenfalls, dass wir uns auch in Zukunft mehrheitlich auf Fakten als Grundlage unseres gesellschaftlichen Handelns stützen und den Lügen ihren Nährboden entziehen können. Dafür werden wir Allgemeinbildung und Medienkompetenz dringend benötigen.

 

Literatur:

Mozur, Paul (2018). A genocide incited on facebook, with posts from myanmar`s military. New York Times.

Zuboff, Shoshana (2019). The age of surveillance capitalism. London: Profile Books, Ltd.

 

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